Wer kennt heute noch die Kudrunsage - die Sage von einer jungen Frau, die nach ihrer Verlobung entführt und am Hof des Normannenkönigs zehn Jahre lang von der Normannenkönigin schikaniert wurde, nur weil sie deren Sohn Hartmut nicht heiraten wollte? Als Königstochter musste sie die schwere Arbeit von Mägden verrichten, u.a. das Waschen von Wäsche bei jedem Wetter am Strand. Dort wurde Kudrun nach zehn Jahren von ihrem Bruder und ihrem Verlobten gefunden, die sie und ihre mitgefangenen Frauen befreiten.

Das Motiv der unerschütterlichen weiblichen Treue wurde vor allem im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts geschätzt und als Vorbild für Mädchen gepriesen. Dieses veraltete Frauenbild muss im 21. Jahrhundert unbedingt hinterfragt werden. Dies geschah in dem Projekt der Schülerinnen und Schüler der Klasse 5d, das in Zusammenarbeit mit Studierenden des Lehrstuhls für Deutsche Philologie durchgeführt wurde. Zusammen mit den Studierenden erarbeiteten die Kinder ein eigenes Theaterstück, das am Abend des 29. Januar 2020 in der Haupthalle des Kaiser-Heinrich-Gymnasiums aufgeführt wurde. Mit viel Spielfreude und großer Disziplin auf und hinter der Bühne gelang es den jungen Schauspielern, diesen „veralteten“ Stoff in einer modernen Fassung den Zuschauern nahe zu bringen. Eine moderne Gudrun, die aus dem 21. Jahrhundert das Unrecht, das Kudrun angetan wird, beobachtet, ergreift das Heft des Handelns und befreit sich mit ihren Frauen selbst. Während Normannen gegen Hegelingen (den Männern aus Kudruns Heimat) kämpften, begeben sich die Frauen auf ein Schiff und segeln davon.

Es war ein wunderbarer Theaterabend, der zeigte, dass auch vermeintlich „verstaubte“ Texte aus dem Mittelalter Schülerinnen und Schüler anregen können, vor dem Hintergrund der Vergangenheit moderne Ideen und eigene Positionen zu entwickeln.

Dr. Christa Horn