Über 30 Jahre lang unterwegs war Kelsang Gyaltsen im Auftrag Seiner Heiligkeit, des Dalai Lama, als sein Sondergesandter, Chefdiplomat und Repräsentant in Genf und Brüssel.

Nun beehrte er auf Vermittlung der Tibet Initiative Deutschland das Kaiser-Heinrich-Gymnasium und erzählte aus seinem bisweilen dramatischen Leben. Seit der gewaltsamen Besetzung Tibets durch China 1949/50 wurden Tausende Tibeterinnen und Tibeter getötet, verhaftet oder zur Flucht gezwungen. So erging es auch Gyaltsens Eltern 1959, mit ihrem siebenjährigen Jungen flohen sie meist zu Fuß und oft ohne Straßen mehrere Tausend Kilometer und über 16 Monate nach Indien – wie der Dalai Lama selbst auch. Nach drei Jahren in Auffanglagern und schlichten Schulen gelangte er ohne Eltern und Geschwister in die Schweiz, dank der Hilfe vieler Menschen, die es gut meinten mit den vielen Flüchtlingskindern.

Während in Tibet 6.000 Klöster zerstört werden, lernt der junge Kelsang in Europa, wie wichtig es ist, sich zu engagieren. Auch dort absolviert er zehn Jahre lang mehrere Schulen, um anschließend 1974 nach Großbritannien auf die English Language School in Cambridge zu gehen. Er gründet mit anderen eine tibetische Jugendorganisation, will etwas zurückgeben, weil auch für ihn oft Menschen da waren, die ihm halfen, kommt in Kontakt mit der Exilregierung und trifft eines Tages Seine Heiligkeit, den 14. Dalai Lama. Dessen Ausstrahlung, sein Mut, seine ethischen Prinzipien, insbesondere das der Gewaltlosigkeit, faszinieren ihn. Er bewährt sich in immer größeren Zusammenhängen und wird nach und nach zu einem der profiliertesten Vertreter der Tibeter überhaupt. Repräsentant des Dalai Lama für Mittel- und Südeuropa, dessen Politischer Sekretär im Büro in Dharamsala, Gesandter für die Europäische Union, zudem auch Gesandter für die Beziehungen mit der Führung der Volksrepublik China, Leiter des Tibetbüros in Genf und 2008 schließlich Repräsentant Seiner Heiligkeit, des Dalai Lama, für Europa sind Stationen seines Aufstiegs.

Mit langem Atem ringt er in allen Ämtern um eine kohärente Tibetpolitik Europas, strebt nach einer atlantischen. Er kommuniziert den „mittleren Weg“ des Oberhaupts der Tibeter: Echte Autonomie hinsichtlich Sprache, Kultur, Religion und Identität für den Verzicht auf die Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit. Lobt die Präsenz und die Stärke, die die USA zeigen. Verurteilt den Völkerrechtsbruch, der bis dato andauert. Die massiven Umweltzerstörungen, Menschenrechtsverletzungen, den kulturellen Genozid. Stärkt die Reformkräfte in China selbst und fordert mehr Druck vom Westen, der mit der gescheiterten Floskel vom „Wandel durch Handel“ gute Geschäfte macht.

Wer ihn erlebte an diesem Vormittag, ging jedoch vor allem beeindruckt von einem spirituellen Menschen mit dem Lächeln des Buddha zurück in den Unterricht. Seine tiefe Ruhe und herzliche Freundlichkeit, seine noble Bescheidenheit trotz der enormen Lebensleistung haben viele berührt. Sehr selten habe ich selbst einen Menschen getroffen, bei dem ein so ungeheuer wacher und kultivierter Geist, der über einen solchen Reichtum an Wissen und Erfahrungen verfügt, mit einer derartigen Reinheit des Herzens und so entwaffnendem Humor einhergeht.

Bernd Franze