Peer. Wer?
Ibsens großes "dramatisches Gedicht" am KHG
"Im Übrigen", soll einst ein gewisser Cato bei jeder mehr oder weniger unpassenden Gelegenheit geäußert haben, im Übrigen sei er der Meinung, dass Karthago zerstört werden müsse. In ähnlicher Albernheit sagt der Verfasser dieser Zeilen, wo immer er kann, im Übrigen halte er es für möglich, dass man eines Tages die sogenannte Digitalisierung des Alltags als Urkatastrophe des 21.Jahrhunderts diagnostizieren werde, und er plädiere dafür, einem Rest von sozialem Frieden zuliebe das Unaufhaltbare, bitte, wenigstens tunlichst zu bremsen. Denn, freilich, die Entwicklung sei konsequent: nach allem, was den sogenannten Menschen der Neuzeit immer schon ausgemacht habe, sei nicht zu erwarten, dass er, in seinen letzten Zügen liegend, etwas Machbares unterlassen werde, nur weil es lästig überflüssig oder schädlich sei. Vielleicht mache das ja sogar den Menschen als solchen aus - als "anthropologische Konstante"... Wie dem auch sei - auf jeden Fall ist es in unseren Tagen verdienstvoll, eventuell verdienstvoller denn je, sich die großen Werke der Literatur zur Brust zu nehmen, die den Menschen der Neuzeit, der wir sind, porträtieren und reichlich Material zu seiner Analyse liefern, wie etwa Goethes "Faust". Oder, wie das Oberstufentheater des KHG es am 7. und 8. Februar 2019 getan hat, den "nordischen Faust", Henrik Ibsens "Peer Gynt" (von 1867). Glücklicher- und verständlicherweise inszenierte Daniel Seniuk den Klassiker nicht als theorielastiges geschichtsphilosophisches Seminar, sondern ließ abwechslungsreich die (in die Ära des Organhandels hinein modernisierten) Abenteuer eines Burschen aus dem Volk vorüberziehen, der freilich weniger Individuum ist als Verkörperung verschiedener Aspekte von uns allen (daher fünf DarstellerInnen) - merke: wir sind alle Peer Gynter: Träumer, Lügner, Sünder. Schuld, magna culpa, Scheitern, Maßlosigkeit prägen sein Schicksal, Norwegen wird ihm bald zu klein, drum zieht er in die Welt hinein, er versteigt sich sogar in die virtuelle der Trolle - durch Lichteffekte, Nebelschwaden, Livepercussion (mit Griegs Musik) sinnfällig realisiert. Er lebt, mit Rilke gesprochen, sein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn - wird den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen muss er ihn; er nimmt dem (von Sebastian Heimbach köstlich bemitleidenswert gespielten) Mads Ingrid (Teresa Schwital) weg und nimmt sich eine Kaiserkrone (als Gewinner in Begriffen-Feldts grotesk bajuwarischer Wahlshow inklusive wahrhaftigem rollendem "R")" - und das Gewonnene wird sofort wertlos und verflüchtigt sich ins Nichts. Ist das die Lehre des Gedichts? Ach, es ist ziemlich übelchen: was bleibt von einem Zwiebelchen? Es bleiben die Häute - aber wo ist die Substanz? Wer oder was ist das gnadenlos gesuchte Ich? (Dass der Umweg über ein gelegentliches "Wer bist du?" zum Ziel, zum Doppelziel, führen könnte, darauf verfällt der faustische Peer nicht und es sagt ihm niemand.) Wo sind Wahrheit, Identität, Wert und Sinn, wo bleibt das Positive? Solveig, die Reine, ist es, die unbeirrbar auf Peers Wiederkehr wartet und ihn schließlich in den Frieden wiegt. Erlösung durch Frauenliebe, siehe z. B. auch Wagners Senta - so war das im 19.Jahrhundert, wo die Romantik noch in den Realismus hineindämmert. Im 21. haben die Stimmen, die mit zunehmender Heftigkeit "Peer, du lügst!" rufen, nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort - ist wenigstens das Wahrheit? Und das Frauenbild darf zeitgemäß korrigiert werden: am Titelhelden hatten neben Alexander Bollerhoff, Kilian Frey und Can Seven auch Edna Lappen und Alina Schock Anteil. Zum Ensemble zählten weiters, großenteils mehrfach eingesetzt: Eva-Maria Bauer, Hannah Flache, Isabel Häußler, Alessa Nadasdy, Luise Neundorfer, Julia Wacker, Mara Wiede, Marie Zimmerhackl, Andrea Zizer, Kaan Ciftci, Noris Derra. Es gibt im Stück besonders tolle Rollen; ich spreche von den Trollen, zumal ihrem König, oder auch von einem Affen - alles irgendwie deformierte (Über-)Menschen. Leider stellt dieses Theater keine Zehnjahresverträge aus... Was einem auch schmerzlich bewusst wurde, als die letztmalig beteiligten Demnächstabiturienten verabschiedet wurden: Eva Maria Bauer, Nico Eissing, Kilian Frey, Emre Oktar, Lilly Zellmann. Anerkennung und Dank! wie ihn die vollbesetzte Aula allen Akteuren, den Technikern und Musikern ausdrückte. Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
M. Schleifer