Sehenswerte Adaptation von „Effi Briest“
Er habe wieder einmal Effi gelesen, „eine Seite pro Tag, wieder einmal unter Tränen“, lässt Samuel Beckett den einsamen alten Schriftsteller Krapp auf seinem „Letztes Band“ festhalten – in gesunder Respektlosigkeit gegenüber einem „Klassiker“ witzelt Ulrich Roski: „Hedwig hustet, Nora niest, Rita röchelt, Effi briest.“ Große Kunstwerke sind „offen“, lassen sich auf sehr unterschiedliche Art rezipieren. Daniel Seniuk, der Regisseur der "szenischen Annäherung" an den vermutlich berühmtesten Roman des deutschen "poetischen Realismus" im 19.Jahrhundert, die am 18. 9. in der Haupthalle des Kaiser-Heinrich-Gymnasiums zu sehen war, brachte in seinem Einladungstext die Ambivalenz auf den Punkt, indem er das Werk "weise und tückisch" nannte. Anlass für seine Wahl war gewiss auch der 200.Geburtstag des Autors am 30. 12., der weit über seine Geburtsstadt Neuruppin hinaus gefeiert wird, nicht nur ums dortige Fontanedenkmal herum.
Das KHG ehrte den Jubilar auf eine sehr würdige Weise - nicht zuletzt auch durch die (was hier nicht nachgewiesen werden kann und muss) sinnvolle und kluge Einbeziehung dreier seiner bekannten Balladen, jeweils in liebevoll gestaltete Schattenspiele umgesetzt, Dokumente der Übermacht des Schicksals und selbstloser Tapferkeit ihm gegenüber: "Die Brück' am Tay", "John Maynard", "Gorm Grimme“.
Wer von den zahlreichen herzlich applaudierenden Besuchern noch nicht zwecks Nachbereitung zum Buch gegriffen hätte, sei dazu kräftig ermuntert. Er könnte die These überprüfen, "Effi Briest" lese sich zunächst über weite Strecken wie ein humoristischer Roman (unter Vernachlässigung düsterer Vorzeichen), geprägt von jenem im Grunde pessimistischen Humor, der sich als einziges Mittel ausgebe, die Unzulänglichkeiten von Mensch und Welt zu ertragen und erträglich zu machedn, die er dadurch als unausrottbar verewigt. Bis dann der blinde Zufall zuschlägt und das eher traurige als tragische Ende erzwingt. Zur Heiterkeit trug insbesondere bei, wie Kaan Ciftci den Apotheker Gießhübler sprechen ließ; auch seine Leistung als Vater Briest sei an dieser Stelle ebenso gewürdigt wie die aller anderen Mitwirkenden, der noch kindlichen Effi von Antonia Reul, der erwachsenen Effi von Marlene Wicht, die von Edna Lappen (Mutter Briest), Sebastian Heimbach (Innstetten), Franziska Roßbach (Johanna), Tyrese Hamid (Crampas) und Alina Schock (beteiligt am "Balladenchor").
Konfrontation mit dem 19.Jahrhundert bedeutet zwangsläufig Bewusstwerden des nicht nur zeitlichen Abstands. Am 18. 9. 2019 beschloss die Bundesregierung die Abschaffung des Gelben Scheins und verpasste der papierenen Zivilisation des traditionellen Lesens und Schreibens damit einen weiteren kleinen Tritt. Anderseits wussten auch Fontane und Instetten schon, was für ein großes Ding ein Ministerium ist. Wenngleich die Fassade des aufgeklärten Humanitätsideals der Goethezeit noch nicht zerbombt war, zeigten sich schon die ersten Risse; die Entwicklung, die über das 20.Jahrhundert in unseres führt, war 1890 schon voll im Gange. Ein fester Charakter ist ein hohes Erziehungsziel; aber Oberflächlichkeit und Erstarrung bestimmen die Praxis, Rationalität und Emotionalität driften unverdrossen auseinander. Literarische Figuren degenerieren allmählich zum immer weniger individuellen Typus, Banalität breitet sich aus, für die des Bösen stehen die Türen einladend offen. (Gedankenspiel: "Innstetten und der Erste Weltkrieg".) Die Reduktion auf wenige Aspekte, die einer "szenischen Annäherung" nicht vorzuwerfen ist, betraf insbesondere Innstettens pedantisch penible Erwägungen vor seinem Entschluss zum Duell mit Crampas, wie immer sie zu beurteilen sein mögen (ein simples moralisches Schwarzweißdenken verbietet sich gerade hier). Ohne das trostlose „O gewiss, wenn ich darf“ hängt Effis Hass gegen ihr vom Vater manipuliertes Kind in der Luft; freilich wird, wer das Werk auch bloß ansatzweise kennt, durch Lektüre oder aus einer Verfilmung, diesen Satz und die Szene der für Effi qualvollen und demütigenden einzigen Wiederbegegnung hinzugedacht haben. Im Zentrum der Texteinrichtung stand Effis Weg zum Kampf wenigstens (allerdings auch höchstens) gegen das ihr persönlich als Frau durch die implizite und explizite gesellschaftliche Norm angetane Unrecht; dass sie am Ende in die Familie "zurückdefiniert" wird (um eine Formulierung von Gerhard Neumann bezüglich Kafkas "Urteil" aufzugreifen), freundlicher gesagt: dass sie versöhnt mit ihren Eltern stirbt (das kommt nicht von "Sohn"!), das wurde, sicher zum Vorteil der Klarheit, gestrichen, ebenso wie Roswitha, die das Schicksal einer Frau aus dem "niederen Volk" ins Gesamtbild eingebracht hätte. Die begleitende Musik (ausnahmsweise nicht live) von Clara Schumann (geb. 13. 9. 1819!) verwies dafür auf eine andere, reale Person, die zum Vergleich mit Effi herausfordert. Effis "reale Vorlage", Elisabeth von Ardenne (1853-1952! leider kein runder Geburtstag), tut das natürlich ebenso - schon zu Fontanes Zeit endeten solche Affären nicht notwendigerweise melodramatisch letal. Gelegenheit, den Fortschritt auch einmal zu loben - exakt so wie Effi ergeht es heutzutage keinem Mädchen mehr. Keine symbolisch im Glas gefangenen Fische mehr (die nicht ohne Risiko Steine würfen), keine Backfische mehr. Sicher? selbst in Bezug darauf ließe sich der alte Briest zitieren... wo denn auch nicht. Wo könnte man denn überhaupt ohne jede Skepsis sicher sein. "In Bezug auf die Qualität dieser Aufführung." "Ja, Luise, da hast du recht."
M. Schleifer