Girls want to have fun
"Hexenjagd" in der Haupthalle
Arthur Millers "Hexenjagd" gehört zu den Geschichtsdramen, von denen man sich wünscht, sie stellten Schauermärchen aus uralten Zeiten dar, die man wie Phantasiegebilde genießen könnte, die aber zumindest auf den zweiten Blick dann doch etwas mit der Gegenwart zu tun haben, und mehr, als einem noch angenehm sein könnte. Das gilt selbst dann, wenn man zu dem, was 1692 in Salem / Massachusetts geschehen ist, heute keine direkte Entsprechung finden wird, die man als wesentliche Ursache oder hervorstechendes Symptom der Krise in Trumpamerika und drum herum, z. B. bei uns, bezeichnen möchte. Ein Weltbild, in dem das Böse allzu bequem und schematisch auf einen übernatürlichen Verursacher und seine Diener in unsrer Mitte zurückgeführt und abgeschoben wird, ist in dieser Form nur noch marginal. Falsche Anschuldigungen, die sich gegen Widerlegung immunisieren, sind heute zum Schaden einer guten Sache vielleicht im Bereich des "Me Too" oder zwischen sich befeindenden politischen Gruppen zu befürchten. Die Aktualität des Stücks liegt eher im generell Menschlichen, Zeitlosen. Dass sich aus "harmlosen" Anfängen, aus Angstlügen, menschlichen Unzulänglichkeiten welcher Art immer, ein Klima allgemeinen Misstrauens und allgemeiner Unsicherheit, Fanatismus und schließlich Katastrophales entwickeln könnte, dessen sollte man sich überall und jederzeit ohne Hysterie bewusst sein. Und den Wahrheitsgehalt von Goethes in oft zitierten Versen formulierter Meinung, Amerika habe es besser als unser altes (!) Kontinent, nicht überschätzen, ohne aus einem idyllischen Alteuropa auf den Rest der Welt hinabzublicken.
Die Aufführung von Millers Stück in der Haupthalle des Kaiser-Heinrich-Gymnasiums am 6. und 7. Februar 2020 trug all dem insofern Rechnung, als der wie gewohnt souveräne Regisseur Daniel Seniuk wie gewohnt auf billige Aktualisierungen verzichtete. Zu Beginn: in so historischen wie zeitlosen weißen Gewändern im Wald tanzende Mädchen (Choreographie Petra Zapf), mit denen man je nachdem unschuldige Engel oder Patientinnen der Psychiatrie assoziieren konnte, inspiriert von der Sklavin Tituba (Vera Schneider), dominiert von der undurchsichtigen, zielstrebig intriganten Abigail (Edna Lappen), Nichte des Pastors Parris (Lukas Hönninger), der der Entdeckung eines satanischen Rituals fassungs- und hilflos gegenübersteht und dadurch, dass er seinen gleichermaßen überforderten Amtsbruder Hale (Hannah Flache) beizieht, den Stein ins Rollen bringt. Der Hexenjagd, die zumal von Thomas und Ann Putnam (Tyrese Hamid, Marlene Wicht) vorangetrieben wird, fallen schließlich auch Unbeteiligte zum Opfer - Richter Hathorne (Kaan Ciftci) und Unterstatthalter Danforth (Isabell Häußler) sind die verantwortlichen Vertreter des Staats. Als tragischen Helden des Stücks kann man, was immer in Interpretationen stehen mag, den Bauern John Proctor (Can Seven) ansehen, der, zur Sühne für Verfehlungen und zur Rettung seiner Frau Elizabeth (Marie Zimmerhackl), das schon unterschriebene Geständnis, mit dem er überleben könnte, zerreißt und den Feuertod so gefasst auf sich nimmt wie die betagte Rebecca Nurse (Teresa Schwital). Getragene Barockmusik begleitete ihren letzten Gang, durch den sie ihre Menschenwürde bewahren - es ging dem Publikum, schlicht gesagt, unter die Haut. Letzte Regieanweisung: "Die Trommeln rasseln wie Knochen in der Morgenluft."
Der Berichterstatter bewegt sich hier freilich, und das möchte er nicht, am Rand der Lüge: er hat nicht die Aufführung gesehen, was ihm aus persönlichen Gründen nicht möglich war, sondern einen Gesamtdurchlauf in der letzten Probenphase. Er konnte dabei notieren, dass neben den bisher Erwähnten auch Paula Kegel (Betty Parris, brach sehr anschaulich zusammen), Giles Corey (Proctors Freund; Tom Herzog), Ezekiel Cheever und Herrick (Polizei; Alexander Bollerhoff, Paul Bettendorf) ihre Rollen glaubhaft und eindringlich gestalteten. Und in keiner Weise war Alexander Hedler (Francis Nurse) daran schuld, wenn am Tag vor der Premiere die Unsicherheit der Figuren, das richtige Handeln betreffend, noch stellenweise mit der Unsicherheit der Akteure, ihren Text und die Abstimmung ihrer Bewegungsabläufe betreffend, konkurrierte. Umso höher ist das einzuschätzen, was verlässliche Personen bezeugen, die bei den Aufführungen anwesend waren: dass sie unter die Haut gingen. So ist Theater... Und: "Girls want to have fun", von der wie immer sicher funktionierenden Technik eingespielt, damit ging's ja los: Alina Schock (Mercy Lewis), Luise Neundorfer (Mary Warren, in besonderem Maße von Abigail unter Druck gesetzt) und Resa Schwegler (Susanna Walcott). Sie tanzten einen Traumtanz...
M. Schleifer